Strukturelle Gewalt sichtbar machen: Erfahrungen aus der Migrationspolitik von Frieda

Strukturelle Hürden verhindern den gleichberechtigten und gerechten Zugang zu Bildung, Recht, Politik, Einkommen und anderen Ressourcen. Diese ungleiche Verteilung wirkt sich auf das Leben von Menschen aus – auf Handlungsoptionen, Gestaltungsmöglichkeiten, Lebensbedingungen und auf die Teilhabe an öffentlichen und politischen Prozessen.
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Strukturelle Ausgrenzung wird beispielsweise in Wissen, Diskursen, Gesetzen, institutionellen Abläufen und alltäglichen Handlungen (re)produziert. Um strukturelle Ausgrenzung zu verstehen, müssen Diskriminierungserfahrungen auf unterschiedlichen Ebenen zusammen betrachtet werden. Oft schaffen mehrere ineinandergreifende Faktoren Hürden, die kaum überwunden werden können. Im Sinne der feministischen Definition von Frieden, die über die Abwesenheit von direkter Gewalt hinausgeht, ist strukturelle Ausgrenzung ein Sicherheitsproblem und eine Form von Gewalt.  

Beispielhaft für die Folgen von struktureller Gewalt ist die stetige Zunahme an armutsbetroffenen Menschen und der Armutsintensität in der Schweiz. Gender, Migrantisierung, Behinderung und Alter sind wesentliche Faktoren dafür. Das Armutsrisiko von migrantisierten Frauen beispielsweise ist um ein Mehrfaches höher als das von Schweizern ohne Migrationserfahrung. Armutsbetroffene migrantisierte Frauen sind mehrfach prekarisiert, denn eine fehlende oder unsichere Anstellung kann zudem ihr Aufenthaltsrecht gefährden.  

Anders als neoliberale Diskurse suggerieren, verweisen diese Ungleichheiten nicht auf individuelles Versagen. Sie machen strukturelle Ausgrenzung deutlich. In Ihrer fast 30-jährigen Arbeit im Migrationsbereich hat Frieda Erfahrungen dazu gesammelt.  

Einschränkung der ökonomischen Teilhabe 

Die Projektteilnehmerinnen von Mira – Kompass und dem vorgängigen Berufsmentoring-Projekt sind qualifizierte Frauen mit Migrationserfahrung. Um in der Schweiz Arbeitsstellen finden zu können, die ihren Qualifikationen entsprechen, müssen die meisten ein gutes Deutschniveau aufweisen. Viele erhalten keine staatliche Unterstützung für Deutschkurse auf höherem Niveau und erleben in diesem Zusammenhang Schwierigkeiten mit Sozialbehörden. Sozialämter greifen wiederholt auf stereotypische Geschlechterrollen zurück, in der Begründung der Ablehnung eines Gesuchs um Kostenübernahme. Zum Beispiel wird argumentiert, dass nur die Kosten für den Ehemann als «Ernährer der Familie» übernommen werden.  

Diese binäre Geschlechterlogik teilt Männern und Frauen klare Rollen zu und definiert, wer welche Ansprüche an den Staat haben darf. Die Arbeitsintegration von Frauen mit Migrationserfahrung wird hintenangestellt und ihre Handlungsoptionen und Gestaltungsmöglichkeiten eingeschränkt. Diese Erfahrung machen sie, weil sie Frauen und Migrantinnen sind. Die Hürden, die sie erleben, haben einen direkten Einfluss auf ihre gesellschaftliche Teilhabe, insbesondere ihre Teilnahme am Wirtschaftsleben. Das kann wiederum langfristige Folgen haben: Im Ausländer*innen- und Integrationsgesetz zum Beispiel wird die Teilnahme am Wirtschaftsleben als Integrationskriterium definiert. Gerade wenn es um Fragen rund um den Aufenthaltsstatus geht, spielt die Erfüllung dieser Kriterien eine zentrale Rolle. Entscheidungen, die Männer als «Ernährer» privilegieren, erhalten patriarchale Abhängigkeitsverhältnisse. Die Ausgrenzung passiert auf einer strukturellen Ebene: Eine diskriminierende Logik schreibt sich in staatliche Prozesse ein und wird als Legitimation für Entscheidungen herangezogen, was bestimmte Menschen benachteiligt und andere privilegiert.  

Des Weiteren hören viele in ihrem Alltag immer wieder Bemerkungen darüber, dass «Geflüchtete nicht arbeiten und dem Sozialamt zur Last fallen wollen». Solche stereotypisierenden Narrative sind in neoliberale Diskurse eingebettet. Sie tragen dazu bei, von struktureller Ausgrenzung abzulenken und Ungleichheit als individuelles Handeln zu entpolitisieren.  

Hürde Diplomanerkennung 

Nebst dem Mangel an Deutschkursen auf höherem Niveau ist die Diplomanerkennung eines der grössten Herausforderungen, welche die Projektteilnehmerinnen erleben. Frieda hat in ihrer Arbeit in der Migrationspolitik mittlerweile unzählige Fälle zum Thema Diplomanerkennung gesammelt. Nebst der Abwertung von ausländischen Diplomen und den vielfältigen Qualifikationen sowie beruflichen Erfahrungen, ist der Zugang zu klarer Information ein zentrales Problem: Der Prozess der Diplomanerkennung bleibt für viele oft unklar. In der Praxis der Diplomanerkennung herrscht eine meist unüberschaubare Pluralität. Betroffene werden von Stelle zu Stelle geschickt und Entscheidungen sind nicht immer konsequent und nachvollziehbar. Der Prozess kostet ihnen viel Geduld, Energie und Geld und ist als strukturelle Hürde im Zugang zu Arbeit zu beurteilen.  

 

Ablehnung in der Privatwirtschaft 

Frieda bekommt in ihrer Arbeit von nahem mit, welche Hürden qualifizierte Frauen mit Migrationserfahrung auf der Arbeitssuche erleben. Wie oben beschrieben ist eine dieser Herausforderungen die Anerkennung von beruflicher Qualifikation. Gleichzeitig ist zu beobachten, dass gewisse Menschen trotz nachweisbarer Qualifikation wiederholt und über eine längere Zeit abgelehnt werden. In gewissen Fällen wird Qualifikation selbst als Bedrohung wahrgenommen. Zum Beispiel wurde eine Teilnehmerin damit konfrontiert, dass ihr Schwarzsein für Kund*innen und Mitarbeitende störend sein könnte. Auch ihr hohes Bildungsniveau wurde als potenzieller Störfaktor dargestellt. Wenn Menschen dominierenden Narrativen und Bildern zur Schweizer Arbeitswelt nicht entsprechen – zum Beispiel wer qualifiziert und erfolgreich ist und wer in welchem Lohnsektor arbeitet – erleben sie oft Schwierigkeiten im Zugang zu einer Arbeit, die ihrer Qualifikation entspricht. Dies erleben besonders mehrfachdiskriminierte Personen. Ein Vorteil auf Papier kann so zu einem Nachteil werden. 

Mangelnder Schutz vor Häuslicher Gewalt 

Auch in anderen Kontexten zeigt sich, dass Frauen mit Migrationserfahrung mehrfach von Gewalt betroffen sein können. Ist der Aufenthaltsstatus einer Person an den Aufenthalt beim Ehepartner geknüpft, kann eine Trennung den Status gefährden. Gerade in Situationen, in denen der Ehepartner häusliche Gewalt ausübt, ist diese rechtliche Abhängigkeit problematisch.

Die Härtefallregelung in Artikel 50 des Ausländer*innen und Integrationsgesetztes widmet sich Situationen, in denen Frauen, deren Aufenthaltstitel an den Ehemann geknüpft ist, häusliche Gewalt erleben. Die Regelung soll dafür sorgen, dass Frauen bei häuslicher Gewalt nicht beim Ehemann verbleiben müssen, aus Angst, den Aufenthaltsstatus zu verlieren. Die ausländer*innenrechtliche Norm sieht aber keine direkten Mechanismen vor, welche den menschenrechtlichen Schutz in den Vordergrund stellen. Betroffene müssen stattdessen Gesuche vorlegen, um ihren Aufenthalt durch individuelle und dem Ermessen nach ausgesetzte Härtefallregelungen sichern zu lassen.

Kürzlich wurde das Gesetz angepasst, um die Härtefallpraxis tatsächlich zu garantieren. Die Grundproblematik des Schutzes über eine Härtefallregelung bleibt aber bestehen. Auch sind Frauenhäuser, Opferhilfestellen und spezialisierten Fachstellen weiterhin überlastet. Sie spielen eine wichtige Rolle im Nachweis des Opferstatus, arbeiten aber mit knappen Ressourcen.

Zusätzlich bleiben die Informationen über den rechtlichen Schutzanspruch schlecht zugänglich. Die Angst, bei einer Trennung den Aufenthaltstitel zu verlieren überwiegt in vielen Fällen. Auch ist die Erfüllung von Integrationskriterien, die im Zusammenhang mit der Härtefallpraxis eine Rolle spielen, eine Herausforderung für Betroffene. Da häusliche Gewalt oft eine isolierende Wirkung hat, ist die soziale, sprachliche, berufliche und ökonomische Integration für gewaltbetroffene Frauen mit Migrationserfahrung erschwert, die Erfüllung der Integrationskriterien also eine weitere Hürde.  

Die Beispiele verdeutlichen, dass Frauen mit Migrationserfahrung von mehrfachen Gewaltformen auf mehreren Ebenen betroffen sein können. Um diesen komplexen Erfahrungen gerecht zu werden und wirksamer eine gewaltfreiere Gesellschaft zu schaffen, müssen eine intersektionale Perspektive auf Gewalt und die Sensibilität für meist unsichtbare Gewaltformen wie strukturelle Gewalt gestärkt werden. Gewalterfahrungen dürfen weder isoliert noch eindimensional oder oberflächlich betrachtet werden – denn ein solcher Ansatz bleibt der gelebten Realität von vielen fern.  

Mira – Kompass Veranstaltungsreihe: Gesprächsrunden zum Thema Schutz vor Gewalt (Teil 1)

16:00 Uhr
Frieda - die feministische Friedensorganisation
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Frauen mit Migrationserfahrung erleben verschiedene Formen von Gewalt. An drei Nachmittagen besprechen wir Strategien dagegen und den rechtlichen Schutz vor häuslicher Gewalt für Frauen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit. Die Veranstaltung findet im Rahmen der «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» statt.
> Detailinfos zum Anlass

Mira – Kompass Veranstaltungsreihe: Gesprächsrunden zum Thema Schutz vor Gewalt (Teil 2)

16:00 Uhr
Frieda - die feministische Friedensorganisation
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Frauen mit Migrationserfahrung erleben verschiedene Formen der Gewalt. An drei Nachmittagen reden wir darüber und lernen Strategien gegen Gewalt kennen. Wir fokussieren uns auf den rechtlichen Schutz vor häuslicher Gewalt für Frauen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit. Die Veranstaltung findet im Rahmen der «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» statt.
> Detailinfos zum Anlass

Mira – Kompass Veranstaltungsreihe: Gesprächsrunden zum Thema Schutz vor Gewalt (Teil 3)

16:00 Uhr
Frieda - die feministische Friedensorganisation
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Frauen mit Migrationserfahrung erleben verschiedene Formen der Gewalt. An drei Nachmittagen reden wir darüber und lernen Strategien gegen Gewalt kennen. Wir fokussieren uns auf den rechtlichen Schutz vor häuslicher Gewalt für Frauen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit. Die Veranstaltung findet im Rahmen der «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» statt.
> Detailinfos zum Anlass

Utopia Rising. Feministischen Frieden kollektiv verwirklichen

00:00 Uhr
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Ein Datum zum Vormerken: Vom 6. – 7. März 2026 organisiert Frieda – die feministische Friedensorganisation unter dem Titel «Utopia Rising. Feministischen Frieden kollektiv verwirklichen» die 8. Schweizer Friedenskonferenz in Bern.
> Detailinfos zum Anlass
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