Frauen auf dem Land bauen sich eine Zukunft

Im Projekt «Samopouzdanje – Selbstvertrauen» der Frieda-Partnerorganisation Vive Žene in Bosnien-Herzegowina lernen Frauen in ländlichen Regionen wie sie sich vor Gewalt schützen können, welche Rechte sie haben und ihre eigenen Ressourcen wertzuschätzen. Sie unterstützen sich über ethnische Grenzen hinweg gegenseitig und einige gründen in einem zweiten Projektjahr ein Kleinunternehmen.
Projektteilnehmerin von Frieda hält Wachteleier, Sinnbild für Frieden, Gemeinschaft und Achtsamkeit

Nach zwei Stunden Fahrt über kurvige Strassen durch kaum bewohnte Gegenden erreichen wir die Kleinstadt Vlasenica in der Republika Srpska. Im «Motel M», einem stattlichen Gebäude mit Garten und direkt an der Strasse und Tankstelle, geben uns Hana* und Sanija, die Projektleiterinnen, einen Einblick in die Geschichte und heutige Situation vor Ort: Vor dem Bosnienkrieg machten die Muslim*innen über 60% der Bevölkerung in der Gemeinde Vlasenica aus. 1992 wurden sie alle vertrieben. Trotz Rückkehrprogrammen leben heute weniger als 1% Muslim*innen hier. Zurückgekehrt sind nur Familien, die keine Alternative haben. Auch viele junge Serb*innen verlassen die Gemeinde, weil es hier kaum wirtschaftliche Perspektiven gibt. Kontakte zwischen Bosniak*innen und Serb*innen sind auch 30 Jahre nach Kriegsende die Ausnahme. Die politische Situation ist derzeit so angespannt wie seit Ende des Krieges nicht mehr.

Emina: Mit mehr Selbstvertrauen zu neuen Perspektiven

In einem kleinen, unverputzten Backsteinhaus inmitten einer hügeligen Landschaft, die Ende Mai in vollem Grün erstrahlt, nur einige Minuten Fahrt vom «Motel M» entfernt und doch fernab von allem, lebt Emina mit ihrem Vater. Hinter dem Haus haben sie einen kleinen Garten zur Selbstversorgung angelegt. Sie halten sechs Schafe und seit einem halben Jahr auch einige Dutzend Wachteln auf dem Dachboden.

Als Emina vor drei Jahren begann, am Projekt teilzunehmen, war sie sehr schüchtern. Damals schien der 25-jährigen Muslima ein Beitritt zur Armee der einzige Ausweg aus ihrer Situation. Als Angehörige einer Minderheit und unverheiratet war sie gesellschaftlich nicht akzeptiert und sorgte allein für ihren Vater – einen an Kriegstraumata leidenden Überlebenden von Srebrenica. Ihre Mutter war vor Kurzem mangels rechtzeitiger medizinischer Versorgung verstorben.

Frauen werden in dieser sehr patriarchal geprägten Gesellschaft zur Zurückhaltung erzogen und können kaum Selbstsicherheit aufbauen. Deshalb beginnt die Projektteilnahme damit, dass junge Frauen lernen, ihre eigenen Fähigkeiten wertzuschätzen und Gewalt – auch psychische – als solche zu erkennen und sich davor zu schützen.

Emina berichtet: «Einige meiner damaligen Freund*innen waren toxisch. Sie haben mich runtergezogen. Als ich – von einer Nachbarin motiviert – zum Projekt kam, haben Vive Žene und die Teilnehmerinnen mir sehr geholfen, Selbstvertrauen zu fassen und hier in Vlasenica eine Perspektive zu sehen.»

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Emina und ihr Vater schöpfen neuen Mut. Foto: Jasmin Jatić

2024 erhält Emina die Möglichkeit, sich in einem zweiten Teil des Projekts für einen kleinen Business-Grant zu bewerben. Weil Eminas Vater nur wenig Land besitzt, hat sie die Idee, Wachteln zu halten und deren Eier zu verkaufen. Sowohl das Projektteam als auch ihr Vater sind skeptisch, doch Emina legt sich ins Zeug. Sie recherchiert die gesundheitlichen Vorzüge von Wachteleiern, lässt sich von einer serbischen Projektkollegin zeigen, wie man Ostereier färbt, und verkauft diese auf dem lokalen Markt. Ihre serbischen Freundinnen aus dem Projekt unterstützen sie tatkräftig, z.B. bei allem, was Computer-Kenntnisse voraussetzt, die sie selbst nicht besitzt. Wenn sie zu Workshops nach Tuzla reist, übernimmt ihr Vater. Der geregelte Tagesablauf kommt seinem gesundheitlichen Zustand zugute.

Die Projektteilnahme hat Emina nicht nur wirtschaftliche Möglichkeiten eröffnet, sondern auch eine neue Perspektive in diesem für sie sonst so schwierigen Umfeld gegeben. Heute blickt sie mit Zuversicht in die Zukunft.

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Marija gründete ein Reinigungsunternehmen. Foto: Jasmin Jatić

Marija: Auch ohne politische Konformität zum eigenen Unternehmen

Nach dem Besuch bei Emina fahren wir zurück nach Vlasenica, um ein weiteres Kleinunternehmen zu besuchen. Vor dem Haus deckt die Mutter einer Teilnehmerin den Tisch mit Süssigkeiten und serviert Kaffee. Marija baut mit zwei weiteren Frauen aus dem Projekt ein Reinigungsunternehmen auf. Sie hat in Vlasenica Forstwirtschaft studiert und das Städtchen nie verlassen. Als Lehrerin konnte die Serbin – mit den heute erwachsenen Söhnen – trotz ihrer grossen Passion für diesen Beruf nicht weiterarbeiten, weil sie sich weigerte, in die lokal regierende Partei einzutreten. Mangels Alternativen versorgte sie ihre Familie jahrelang als Kellnerin. Mithilfe des Business-Grants machen sie und ihre zwei Kolleginnen sich nun mit einem kleinen Reinigungsbetrieb selbständig. Die drei wollen unter anderen für Rentner*innen putzen und waschen. Marija hat viele Ideen, wie sie ihr Geschäft ausbauen können.

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Sabiha bietet heute auf lokalen Märkten hausgemachte Produkte an. Foto: Jasmin Jatić

Sabiha: Kriegstraumata wirken nach

Nach Ćevapčići und Salat im «Motel M» besuchen wir die 34-jährige Muslima Sabiha. Sie lebt mit ihren Eltern in Konjević Polje, eine halbe Stunde von Srebrenica entfernt, wo 1995 der Genozid an 8'000 muslimischen Männern und Jungen verübt wurde und der von der lokal regierenden Partei geleugnet wird. Sabiha und ihre Familie wurden im Bosnienkrieg vertrieben. Sie kehrten 2002 nach Konjević Polje zurück. Akzeptiert sind sie als muslimische Minderheit dort bis heute nicht. Als Schulkind wurde Sabiha von Gleichaltrigen mit Glasflaschen beworfen.

Heute bietet sie auf lokalen Märkten hausgemachte Produkte an, die ihre Mutter herstellt – Konfitüren, Sirup, Ajvar, eingemachtes Gemüse und manchmal Ziegenfrischkäse. Wir sprechen im Garten über das neu gegründete Kleinunternehmen, als Sabihas Mutter unvermittelt von ihrer Vertreibung im April 1993 zu erzählen beginnt, als sei es gestern gewesen. Damals musste die junge Mutter mit ihren beiden Kleinkindern Konjević Polje verlassen: Innerhalb dreier Tage wurden 25'000 Frauen und Kinder aus dem heutigen Gebiet der Republika Srpska nach Tuzla deportiert. In den Lastwagen mussten so viele Menschen Platz finden, dass Kleinkinder erstickt sind. Auch heute noch ist die Familie von diesen Ereignissen geprägt. Und die ethnischen und politischen Spannungen nehmen 30 Jahre nach Kriegsende derzeit wieder stark zu. Umso wichtiger ist das Projekt «Samopouzdanje», das auch dazu beiträgt, dass die verschiedenen Bevölkerungsgruppen miteinander in Kontakt treten und gemeinsam an wirtschaftlichen Perspektiven arbeiten.

*Alle Namen sind anonymisiert.

Mira – Kompass Veranstaltungsreihe: Gesprächsrunden zum Thema Schutz vor Gewalt (Teil 1)

16:00 Uhr
Frieda - die feministische Friedensorganisation
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Frauen mit Migrationserfahrung erleben verschiedene Formen von Gewalt. An drei Nachmittagen besprechen wir Strategien dagegen und den rechtlichen Schutz vor häuslicher Gewalt für Frauen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit. Die Veranstaltung findet im Rahmen der «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» statt.
> Detailinfos zum Anlass

Mira – Kompass Veranstaltungsreihe: Gesprächsrunden zum Thema Schutz vor Gewalt (Teil 2)

16:00 Uhr
Frieda - die feministische Friedensorganisation
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Frauen mit Migrationserfahrung erleben verschiedene Formen der Gewalt. An drei Nachmittagen reden wir darüber und lernen Strategien gegen Gewalt kennen. Wir fokussieren uns auf den rechtlichen Schutz vor häuslicher Gewalt für Frauen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit. Die Veranstaltung findet im Rahmen der «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» statt.
> Detailinfos zum Anlass

Mira – Kompass Veranstaltungsreihe: Gesprächsrunden zum Thema Schutz vor Gewalt (Teil 3)

16:00 Uhr
Frieda - die feministische Friedensorganisation
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Frauen mit Migrationserfahrung erleben verschiedene Formen der Gewalt. An drei Nachmittagen reden wir darüber und lernen Strategien gegen Gewalt kennen. Wir fokussieren uns auf den rechtlichen Schutz vor häuslicher Gewalt für Frauen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit. Die Veranstaltung findet im Rahmen der «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» statt.
> Detailinfos zum Anlass

Utopia Rising. Feministischen Frieden kollektiv verwirklichen

00:00 Uhr
tba
Ein Datum zum Vormerken: Vom 6. – 7. März 2026 organisiert Frieda – die feministische Friedensorganisation unter dem Titel «Utopia Rising. Feministischen Frieden kollektiv verwirklichen» die 8. Schweizer Friedenskonferenz in Bern.
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