Gender und Krieg: Analyse zu geschlechtsspezifischer Gewalt

Eine Analyse zu geschlechtsspezifischer Gewalt im Nahostkrieg
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Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt wurzelt im weltweit verbreiteten Patriarchat. Sie ist somit nicht an bestimmte Regionen, Religionen oder kulturelle Kontexte gebunden, sondern wird sowohl in vermeintlich friedlichen Kontexten wie der Schweiz, als auch in Kriegsgebieten ausgeübt. Eine Besonderheit stark militarisierter Kontexte ist jedoch, dass zuvor bestehende ungleiche Machtverhältnisse tendenziell verstärkt und das System männlicher Dominanz vertieft werden. Menschen, die bereits in «Friedenszeite» direkter, struktureller und kultureller Gewalt ausgesetzt waren, sind daher in bewaffneten Kontexten überdurchschnittlich von Gewalt betroffen.

Dies zeigt sich insbesondere daran, dass sexualisierte Gewalt in Kriegskontexten strategisch, das heisst organisiert und systematisch angewandt wird. In brutalster Art und Weise wird das militärische Schlachtfeld auf den weiblichen Körper ausgeweitet – durch bewaffnete Gruppierungen, die Polizei, nationalstaatliche Armeen oder auch UNO-«Friedenstruppen». Als Ganzes betrachtet, werden so vermeintlich isolierte Taten sexualisierter Gewalt als organisierte Kriegsstrategie erkennbar. Diese Kriegsstrategie dient politischen Zielen der Kriegsparteien; sei es Machtausübung, Zerstörung und Destabilisierung von Gemeinschaften, die massive Verletzung oder die Dehumanisierung der Gegner*innen. Die Betroffenen von sexualisierter Kriegsgewalt sind zu 97% Frauen und Mädchen.[1] Überleben sie, leiden sie häufig an gesundheitlichen Folgen durch die Verletzungen, gesellschaftlicher Stigmatisierung und Ausgrenzung, fehlender Unterstützung und psychischen, potenziell intergenerationellen Traumata.

Nach jahrelangem Engagement feministischer Bewegungen und Frauenrechtsorganisationen haben die Vereinten Nationen verschiedene Resolutionen (1325, 1820, 1888, 2106) verabschiedet, die einen besseren Schutz vor sexualisierter Gewalt sowie die konsequente strafrechtliche Verfolgung und Verurteilung der Täter verlangen. Ein grosser Erfolg war zudem die Anerkennung systematischer sexualisierter Gewalt als Verbrechen gegen die Menschlichkeit und damit als Kriegsverbrechen vor rund 25 Jahren. Im öffentlichen Diskurs aber sind Ursachen, Ausmass, Varianten und Folgen sexualisierter Gewalt im Krieg und als Kriegsstrategie kaum ein Thema. Das liegt auch daran, dass, wie von Monika Hauser, Gründerin der Organisation Medica Mondiale hervorgehoben, sexualisierte Gewalt im öffentlichen Diskurs oftmals erst dann aufgegriffen wird, wenn daraus ein sogenannter «Sensationsmoment» gemacht werden kann. Es folgt ein kurzer, gesellschaftlicher Aufschrei – nach welchem das Thema aber wieder von der Bildfläche verschwindet.

Sowohl die politische Instrumentalisierung sexualisierter Gewalt wie auch das Sensationsmoment zeigten sich jüngst exemplarisch im Nahostkrieg bei den sexualisierten Angriffen gegen jüdische Israelinnen, arabische Beduininnen und andere Frauen durch den bewaffneten Arm der Hamas und deren Verbündeten am 7. Oktober 2023. Bilder und Berichte der Taten wurden ohne ausreichende Anonymisierung und Einordnung weltweit in (sozialen) Medien verbreitet. Die medial bewirtschafteten Reaktionen, die auf diese terroristischen Gewaltakte folgten, werden zum Vorantreiben der politischen Agenda der Konfliktparteien genutzt: Die Taten werden einerseits von den Tätern und ihren Verbündeten öffentlich zur Schau gestellt. Sie dienen andererseits der israelischen Armee als Rechtfertigung für Gegengewalt an der Zivilbevölkerung im Gazastreifen in Form von massiven Bombardierungen. Der Schutz und die Bedürfnisse der Überlebenden sexualisierter Gewalt spielen dabei kaum eine Rolle. Sie und ihr Leid werden abermals objektiviert und für politische Ziele instrumentalisiert. Zudem wurde global nicht der Fokus auf die Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt vom 7. Oktober gelegt, sondern die polarisierenden Diskurse weiter genährt, um feministische Organisationen zu diskreditieren und zur Spaltung von feministischen Bewegungen beizutragen. Frauen- und Menschenrechtsorganisationen dokumentieren seit Jahren sexualisierte Gewalt von israelischen Soldaten und Siedlern an Palästinenserinnen – zum Beispiel an Checkpoints oder in israelischen Gefängnissen.[2] Und dies sowohl seit der Jahrzehnte andauernden Besatzung, als auch seit Ausbruch des Krieges. Global wurde diesen Zeugnissen kaum Gehör geschenkt. 

Jenseits konkreter Taten sexualisierter Gewalt zeigen sich im Krieg auch andere Formen geschlechtsspezifischer Gewalt. So verhärten sich etwa die patriarchalen Geschlechtervorstellungen und -rollen durch bewaffnete Konflikte, auch im Nahen Osten: Männer werden zu Kämpfern und Tätern, Frauen zu trauernden Hinterbliebenen, Opfern oder «Care Givers». Nur selten werden Frauen aus und in Kriegskontexten als Expertinnen in Konflikt-, Sicherheits- und Friedensfragen anerkannt oder aber auch als Täterinnen benannt. Ebenso wenig werden palästinensische Männer in Gaza als schützenswerte Zivilisten gesehen, auch wenn sie nicht den kämpfenden Milizen angehören oder alt, verletzt oder minderjährig sind. Die Eskalation befeuert eine Retraditionalisierung sozialer Normen, die sich etwa in einem Trend zu Frühverheiratung und Rückkehr zu traditionellen Familienmodellen zeigt – in Israel wie auch im besetzten Palästinensischen Gebiet.[3] Auch solche Phänomene sind als kulturelle oder strukturelle geschlechtsspezifische Gewalt zu begreifen. Sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit von direkter Gewalt, und obwohl sie subtiler und schwerer fassbar sind als unmittelbare sexualisierte Gewalt, richten sie grosses Leid an.

Weitere geschlechtsspezifische Ungerechtigkeiten werden mit Blick auf den konkreten Alltag von Frauen und Mädchen im Krieg ersichtlich. Palästinensische Frauen hatten bereits vor der jüngsten Eskalation mit geschlechtsspezifischer und sexualisierter Gewalt, bedingt durch patriarchale Gesellschaftsnormen und die israelische Besatzung, zu kämpfen. Der Krieg hat diese Situation verschärft, da viele Frauen im Gazastreifen durch den Tod von männlichen Familienmitgliedern zum Familienoberhaupt geworden sind. Sie sind damit nicht mehr nur hauptverantwortlich für die Sorgearbeit, sondern auch für sichere Unterkünfte, Nahrung, Wasser und medizinische Versorgung von Familienmitgliedern. Doch sowohl Einkommensmöglichkeiten als auch humanitäre Güter sind extrem rar und für Frauen in einem männlich dominierten und kontrollierten Kontext doppelt schwer zu beschaffen. Die emotionale und psychische Belastung von Frauen durch die ständige Angst um Leib und Leben ist damit besonders hoch. Zusätzlich sind Frauen und Mädchen geschlechtsspezifischen Gesundheitsrisiken ausgesetzt. In den überfüllten Notunterkünften fehlt es an allem. Menstruationshygieneprodukte sind kaum erhältlich und der Zugang zu Toiletten und sauberem Wasser ist limitiert. Schon die Menstruation wird so zum gesundheitlichen Risiko. Unsere Partnerorganisationen berichten, dass viele Frauen zu nicht-lizenzierten Verhütungsmitteln auf dem Schwarzmarkt greifen, unter anderem auch, um ihre Periode hinauszuzögern. Für die schätzungsweise 50'000 schwangeren Frauen im Gazastreifen gibt es keinen sicheren Ort für die Entbindung. Viele gebären in den überfüllten Flüchtlingslagern unter prekärsten Hygienebedingungen. Bei Komplikationen schaffen es die wenigsten in die letzten noch betriebsfähigen Spitäler. Kaiserschnitte werden aufgrund der desaströsen humanitären Zustände ohne Narkose durchgeführt.

Perfiderweise bleiben genau solche spezifischen Bedürfnisse von Frauen und Mädchen in Kriegszeiten meist unbeachtet. Das liegt nicht nur an der fehlenden Anerkennung von Frauenorganisationen oder dem kleinen «Sensationspotential» solcher vermeintlich banalen Probleme wie Menstruationsartikeln, sondern auch an der spezifischen Verletzlichkeit von Frauenorganisationen. Letztere zeigt sich im aktuellen Konflikt exemplarisch: Aufgrund der heftigen Bombardierung des Gazastreifens befanden sich in den ersten Wochen des Krieges viele Mitarbeiterinnen von Frauenorganisationen auf der Flucht. Die Sorgearbeit für Kinder, verletzte Angehörige oder andere vertriebene Familien ist für diese Expertinnen über Nacht zur höchsten Priorität geworden. Erst wenn das Überleben in den Notunterkünften einigermassen organisiert ist, werden die Frauenrechtsorganisationen wieder handlungsfähig. In der Zwischenzeit wurden jedoch viele humanitären Gelder an Organisationen mit anderen Prioritäten gesprochen. Weniger als ein Prozent aller humanitärer Gelder im Nahostkrieg ist heute auf geschlechtsspezifische Bedürfnisse angepasst.[4]

Frieda kämpft entschieden gegen solche Geschlechterungerechtigkeiten. Als feministische Organisation solidarisieren wir uns mit allen Betroffenen von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt – mit israelischen, palästinensischen und Betroffenen anderer Nationalitäten. Wir beleuchten unbeachtete Geschlechterungerechtigkeiten in Kriegs- und «Friedenszeiten» und unterstützen insbesondere gezielt unsere langjährigen, im Gazastreifen, der Westbank und in Israel aktiven Partnerorganisationen. Basierend auf deren Expertinnenwissen und ihrer guten lokalen Vernetzung können wir gemeinsam mit ihnen geschlechtsspezifische Bedürfnisse von Mädchen und Frauen sichtbar machen und passende, feministische und genderspezifische Unterstützung umsetzen. Zusammen mit unseren Partnerorganisationen setzten wir uns beispielsweise im Gazastreifen dafür ein, dass Frauen Bargeldhilfe erhalten, um damit für ihre Familien sorgen zu können und engagieren uns für die Lieferung von Menstruationsartikeln. Ausserdem steht die psychosoziale Unterstützung im Vordergrund: Sie unterstützt kriegsbetroffene Frauen und Mädchen darin, ihre Resilienz zu stärken. Damit sie jedoch längerfristig eine neue Existenz aufbauen und ihre Rechte einfordern können, braucht es an erster Stelle einen sofortigen und permanenten Waffenstillstand. Entsprechend fordert Frieda folgendes:

  • Sofortiger und permanenter Waffenstillstand sowie eine politische Lösung für einen gerechten Frieden

  • Sofortiger Zugang zu ausreichender humanitärer Versorgung für die notleidende und hungernde Zivilbevölkerung des Gazastreifens

  • Freilassung aller Geiseln im Gazastreifen

  • Keine mediale und politische Instrumentalisierung von sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt

  • Effektive Bekämpfung von sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe anhand von struktureller Veränderung durch den Kampf gegen Militarismus und Patriarchat

  • Unabhängige Untersuchungen und allfällige strafrechtliche Verfolgung der Hinweise für systematische sexualisierte Gewalt an jüdischen Israel*innen, arabischen Beduin*innen und weiteren Personen durch die Hamas und ihre Verbündeten

  • Unabhängige Untersuchungen und allfällige strafrechtliche Verfolgung der Hinweise für sexualisierte Gewalt durch israelische Soldat*innen an Palästinenser*innen

  • Ende der systematischen Unterdrückung der Palästinenser*innen durch die israelische Besatzungspolitik und der damit einhergehenden Militarisierung sowie Freilassung aller willkürlich inhaftierter Palästinenser*innen in Israel

  • Einbezug von Frauen bei Konfliktbearbeitungsstrategien, in der Friedensförderung und in sicherheitspolitischen Belangen.

  • Einbezug geschlechtsspezifischer Bedürfnisse bei der Bereitstellung humanitärer Güter sowie Unterstützung lokaler Frauenorganisationen

  • Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und gleiche Rechte für alle Menschen in Israel / Palästina


[1] Auch non-binäre Menschen sind überdurchschnittlich stark von geschlechtsspezifischer Gewalt betroffen. Ihre Erfahrungen werden in vielen Statistiken zu sexualisierter Gewalt in bewaffneten Konflikten nicht festgehalten, was eine Form der Nichtanerkennung der Gewalt ist, welche sie erleiden. Auch Männern und Jungen wird in bewaffneten Konflikten sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt angetan. Aufgrund der Ausrichtung unserer im Gazastreifen aktiven Partnerorganisationen sowie der überwältigenden Betroffenheit von Frauen und Mädchen legen wir in diesem Text den Fokus auf sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalt gegen Frauen und Mädchen.

[2] https://www.ohchr.org/en/press-releases/2024/02/israelopt-un-experts-appalled-reported-human-rights-violations-against. Ausserdem durch die in Genf ansässige NGO Euro-Mediterranean Human Rights Monitor : In testimonies to Euro-Med Monitor, women from Gaza report being subjected to sexual violence, torture by Israeli forces (euromedmonitor.org)

[3] UN Women: the gendered impact of the crisis in Gaza; January 2024; Haaretz Newspaper: A Date With Death: Israelis' Hunt for Love After October 7 (Lilach Volach); February 12th 2024.

[4] Nur 1% des Geldes, das im Humanitarian Response Plan der OCHA bis Dezember 2023 eingesetzt wurde. Berechnungen gemäss UN Women analysis of Financial Tracking Service data für den 2023 Flash Appeal, 18 January 2024.

Hier finden Sie Friedas weitere Stellungnahmen zum Krieg zwischen Israel und Gaza

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