Armut ist kein Verbrechen!

Jede Person, die in der Schweiz in eine finanzielle Notlage gerät, hat unabhängig von ihrer Herkunft Anrecht auf finanzielle Unterstützung. Dieser Anspruch ist in der Bundesverfassung festgeschrieben und soll in Notlagen ein menschwürdiges Leben ermöglichen. Mit der Revision des Ausländer- und Integrationsgesetzes (AIG) im Jahr 2019 wird dieser Anspruch aber stark eingeschränkt: Personen ohne Schweizer Pass, die Sozialhilfe beziehen, droht, dass sie ihr Aufenthaltsrecht verlieren oder dass ihre Niederlassungs- oder Aufenthaltsbewilligung rückgestuft wird.
Unter Generalverdacht
Vor der Reform wurde betont, dass nur Personen, die «missbräuchlich» Sozialhilfe beziehen, im Fokus der Verschärfung stünden. In der Praxis aber geraten armutsbetroffene Personen ohne Schweizer Pass pauschal unter Verdacht: Kantonale Migrationsämter verwarnen und überprüfen Personen oft auch ohne begründeten Verdacht auf Missbrauch und messen der individuellen Prüfung wenig Gewicht bei. Auch herrschen grosse kantonale Unterschiede in der Praxis. Zum Beispiel gibt es unterschiedliche Richtlinien, ab wann Sozialdienste Klient*innen beim Migrationsamt melden müssen. Sozialhilfe- und Aufenthaltsfragen werden zunehmend miteinander verschränkt. Das überfordert Fachpersonen und konfrontiert Betroffene mit widersprüchlichen Aussagen von zuständigen Behörden.
Verzicht auf rechtmässigen Anspruch auf Sozialhilfe
Diese Entwicklungen wirken sich nicht nur auf direkt Betroffene aus: Viele verzichten auf ihren Anspruch auf Sozialhilfe, da sie ausländerrechtliche Massnahmen fürchten. Das führt zu weiteren Problemen wie starke Verschuldung, Verzicht auf medizinische Behandlung oder Schwierigkeiten bei der beruflichen Integration.
Durch ihre langjährigen Projekte im Migrationsbereich kennt Frieda die Auswirkungen für Betroffene: Zum Beispiel musste eine Teilnehmerin, eine diplomierte Bauingenieurin, das Berufsmentoring-Projekt von Frieda verlassen, um ihre Familie finanziell zu unterstützen. Ihr Mann hatte während der Corona-Pandemie seine Arbeit verloren. Um nicht auf Sozialhilfe zurückgreifen zu müssen und so eine Rückstufung des Aufenthaltsstatus zu riskieren, arbeitete sie gemeinsam mit ihrem Mann und ihren beiden jugendlichen Töchtern in einer Reinigungsfirma – für 14 Franken pro Stunde.
Während der COVID-19-Pandemie verschlechterte sich die Situation von Frauen mit Migrationserfahrung wesentlich, oft durch den Verlust oder die Prekarisierung der Arbeitsstelle. Im Dilemma zwischen der drohenden finanziellen Unsicherheit und der Unsicherheit des Bleiberechts, haben viele auf ihnen zustehende Sozialhilfe verzichtet, um ihr Bleiberecht nicht zu gefährden. Viele Frauen mit Migrationserfahrung und ihre Familien sind noch immer nicht aus dieser Spirale der Prekarität und Ungewissheit herausgekommen.
Bei unserer Arbeit im Rahmen des Programms der Migrationspolitik sind wir dauernd mit dieser prekären Situation konfrontiert, insbesondere bei alleinerziehenden Müttern.
Individualisierung eines strukturellen Problems
Die Kriminalisierung von armutsbetroffenen Menschen hat eine lange Tradition und lenkt von den strukturellen Ursachen von Armut ab. Hilfebedürftigkeit von armutsbetroffenen Menschen ohne Schweizer Pass darf nicht als selbstverschuldet individualisiert und so bestrafbar gemacht werden. Meist ist sie Ausdruck davon, dass Menschen – oft mehrfach – strukturelle Gewalt erleben und einen deutlich beschränkten Handlungsspielraum haben: Rassismus, Sexismus, die Flexibilisierung und Deregulierung der Arbeitswelt sowie neoliberale Arbeitspolitik führen zu Prekarisierung, Unsicherheit, Ungleichheit und Diskriminierungen. Dies erschwert den gerechten Zugang zu Lohnarbeit.
Frieda begrüsst ausdrücklich, dass die parlamentarische Initiative «Armut ist kein Verbrechen!» mehr Rechtssicherheit schaffen möchte: Die Praxis muss schweizweit vereinheitlicht werden. Die Prüfung durch kantonale Migrationsbehörden darf Armutsbetroffene nicht kriminalisieren. Nur so kann das Vertrauen der Betroffenen in das Schweizer Sozialwesen aufgebaut werden und nur so kann dieses seine Aufgabe auch effektiv erfüllen.
Weitere Artikel zur Initiative «Armut ist kein Verbrechen»
Frieda verfolgt, was mit der Initiative passiert ist und wie es weitergeht. Hier gibt es weitere Artikel zu diesem Thema:
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