«Frieden heisst Entfaltung des Lebens»

Um gleich mit dem Grundthema von Frieda einzusteigen: Was hat für euch Frieden mit Feminismus zu tun?
Virginia: Im Kern geht es beim Feminismus immer um Freiheit. Darum, sein Leben ohne Unterdrückungsstrukturen wie Rassismus oder Sexismus gestalten zu können. Denn Unterdrückung kann sich auch in Gewalt äussern, da kommt der Friedensbegriff ins Spiel.
Wichtig ist der positive Friedensbegriff, der nicht «nur» die Abwesenheit von Gewalt und bewaffneten Konflikten meint, sondern umfassend gedacht wird. Frieden heisst auch die Entfaltung des Lebens. Es heisst, einen Lebensentwurf ohne gesellschaftliche Zwänge frei wählen zu können. Mir gefällt, wie weit der Friedensbegriff bei Frieda gefasst ist.
Marianne: Das stimmt alles für mich. Dazu kommt, dass heute in Europa die Leistungen von Männern und Frauen noch immer unterschiedlich bewertet werden. Was eine Frau sagt, wird oft weniger ernst genommen; was sie macht, ebenso. Das heisst: Wenn eine einem Mann zugeschriebene Höchstleistung sich als Leistung einer Frau entpuppt, wird sie plötzlich nur noch als guter Durchschnitt gesehen. Und wenn es um Frieden im engeren Sinn geht, starren wir auf die drei, vier Männer der Welt, die die Macht haben, eine „Problemlösung“ auf die klassisch männliche Art durchzusetzen: mit Krieg und Zerstörung. Keinen Krieg zu haben, wäre heute schon viel. Vor vier oder fünf Jahren hätte ich nicht erwartet, dass wir Krieg wieder so nah erleben.
Ja, Krieg ist auch hier wieder nahe und in den öffentlichen Debatten sehr präsent. Wo seht ihr das Potenzial von Frieda?
Marianne: Wir können im Gazastreifen zusammen mit unseren Partnerorganisationen konkrete Nothilfe leisten. Immer der Situation angepasst, arbeiten wir zu geschlechtsspezifischer Gewalt und ökonomischem Empowerment. Sehr wichtig und umfangreich ist die psychosoziale Unterstützung für Kinder, Frauen und Familien, die unsere Partnerorganisationen leisten.
Virginia: Ja, vor fünf Jahren war Krieg für uns weit weg. Aber ich denke, linearer Fortschritt ist ein Märchen, es ist immer ein Hin und Her. Zurzeit erleben wir eine krasse Aufrüstung und Fokussierung auf eine eindimensionale, nach aussen gerichtete Sicherheit. Dabei geht es nicht um geschlechtsspezifische Gewalt oder Rassismus, obwohl beides zunimmt. Daran sehen wir die verfehlte Politik, die an den Bedürfnissen der Leute vorbeigeht.
Spannend bei Frieda ist nicht nur die konkrete Unterstützung, die geleistet wird, sondern auch der Rahmen des positiven Friedens, der die Vision einer anderen Gesellschaft öffnet. Die Frage, um wessen Sicherheit es geht, trifft die aktuelle Aufrüstung im Kern. Deswegen finde ich das Potenzial, aber auch die Arbeit von Frieda, enorm.
In einem Fernsehinterview fragte Gertrud Kurz (Gründerin von cfd/Frieda) einmal selbstkritisch, auf die Zeit des zweiten Weltkrieges zurückblickend: «Warum hat man eigentlich nicht mehr Lärm gemacht?» Heute sind wir wieder in einer Krisensituation, sollte Frieda lauter, politischer sein?
Marianne: Ja, ich wünsche mir, dass Frieda stärker, präsenter wird und wesentlich mehr erreichen kann. Es braucht die langfristige Unterstützung, damit Frauen mehr zu sagen haben und ernster genommen werden. Der neue Name Frieda hilft, mehr Leute anzusprechen, weil er nicht lange erklärt werden muss.
Virginia: In meiner Wahrnehmung hat Frieda die Sprechposition durchaus verstärkt und sich eine neue, spannende Positionierung erschaffen. Friedas Arbeit ist im Kern sehr politisch, auch Gertrud Kurz war schon politisch. Die Schwierigkeit in solchen Krisen, in denen rechte Kreise mehr Macht erhalten, ist es, die Arbeit zu sichern. Es geht darum, Betroffene unterstützen zu können und zugleich zu verändern, wie über Frieden und geschlechtsspezifische Gewalt gesprochen wird. Das braucht ein ständiges Ausbalancieren, wieviel Sichtbarkeit sinnvoll ist, und wo es gilt, die wichtige Arbeit zu sichern. Mir gefällt, dass bei Frieda die Betroffenen und die erarbeiteten realen Veränderungen in den Vordergrund gestellt werden.
Marianne, was waren die Highlights als Präsidentin für dich?
Marianne: Am wichtigsten für mich ist der Namenswechsel. Damit öffnen wir uns und können auf längere Sicht mehr bewirken. Auch wie sich die Kampagne «16 Tage gegen Gewalt an Frauen» entwickelt, freut mich. Sie ist ein Begriff geworden und das Thema häusliche Gewalt ist präsent, nicht nur in meiner Bubble. Das Thema hat sehr viel mit Macht und Machtmissbrauch zu tun; deren Lösung ist ein wichtiger Beitrag für einen umfassenden Frieden.
Als ich zwei unserer Projekte in Marokko besuchen konnte, war ich beeindruckt, wie effektiv, voller Engagement und Herzlichkeit die Partnerorganisationen arbeiten. Das zu erleben hat mich nochmals überzeugt, dass die von uns unterstützten Projekte wirksame Verbesserungen für die Frauen erreichen. Es geht zwar langsam vorwärts, aber Bewegungen wie in den Frieda-Projekten sind wichtig.
Virginia: Es zeigt auch, dass Wandel nicht automatisch passiert, sondern einen Anstoss, einen Impuls braucht. Daher auch der komplexe Anspruch an die eigene Arbeit. Weil Fortschritt nicht einfach mehr Gleichstellung heisst, braucht es ein komplexes Narrativ, das Begriffe wie Gewalt und Frieden in ihrer Ganzheit fasst. Um effektiv etwas zu bewegen, braucht es verschiedene Ansatzpunkte, auf individueller aber auch auf politischer Ebene.
Du stehst vor deiner Wahl zur Präsidentin, Virginia. Wo möchtest du Akzente setzen?
Virginia: Wir befinden uns mitten in Backlashs. Da braucht es einen guten Boden, kann man keine Luftschlösser bauen. Was Marianne, der Vorstand und das Team in den letzten Jahren erarbeitet haben, ist eine solide Sprechposition, zum Beispiel mit dem neuen Namen. Jetzt gilt es, diese Arbeit zu sichern. Wir sehen, dass sie unter Druck kommt und Gelder gekürzt werden. Geschlechtsspezifische Gewalt zum Beispiel ist zwar immer wieder Thema, aber für den Schutz der Betroffenen fehlen die finanziellen Ressourcen. Und die Zukunft der internationalen Zusammenarbeit ist wegen der Kürzungen ungewiss. Damit und mit dem internen Organisationsentwicklungsprozess können wir die Organisation nachhaltig stärken und Frieda gut positionieren. Ich glaube, dass Krisen auch Chancen sein können, weil man aufzeigen kann, weshalb die Arbeit wichtig ist und wo sie notwendig ist. Gerade in Zeiten von Ohnmacht ist es wichtig, Hoffnung zu geben. Wir zeigen, dass wir konkret etwas machen können, das substanziell ist für die Menschen vor Ort und vielen Hoffnung gibt. Denn wir dürfen die Hoffnung nicht verlieren.
Ich habe grossen Respekt vor diesem Amt und vor der Arbeit der vielen Menschen, die sich für und mit Frieda eingesetzt haben. Ich freue mich, diese Arbeit weiterführen zu können.
Das Gespräch wurde am 19.5.2025 bei Frieda in Bern geführt.